Mehr Transparenz in der maritimen Transportkette

Alarm in der Einsatzzentrale des Havariekommandos in Cuxhaven: Ein Großcontainerschiff meldet »Rauchentwicklung an Bord«. Das riesige, 350 mal 50 Meter messende Frachtschiff hat über und unter Deck Tausende von Containern unterschiedlichsten Inhalts geladen. Die Lage ist unklar. Was hat den Rauchherd verursacht? Droht ein Brand oder gar eine Havarie? Befinden sich Gefahrstoffe an Bord? Welche Einsatzkräfte müssen alarmiert, welche Maßnahmen eingeleitet werden? In Momenten wie diesen braucht es vor allem eins: schnelle und umfassende Lageinformationen. Hierbei unterstützt das Projekt »NSW-Plus«.

National Single Window-Plus (NSW-Plus)

© Fraunhofer FKIE
Tausende Container unterschiedlichsten Inhalts haben Großcontainerschiffe geladen. Bricht ein Brand an Bord aus, müssen schnellstmöglich die genauen Ladungsinformationen beschafft werden. Bislang geschieht dies sehr mühselig über unterschiedliche Kanäle. Das kostet wertvolle Zeit.
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NSW-Plus öffnet ein bestehendes Meldesystem für weitere Daten der maritimen Wirtschaft. Es schafft damit eine neue Dienstleistung, die eine bessere Planung und Steuerung des maritimen Transports ermöglicht. Auch Sicherheitsbehörden können davon profitieren: Im Krisenfall stehen ihnen ad hoc übersichtlich aufbereitete Informationen zur Verfügung, wie z. B. genau lokalisierte Schiffsladungsdaten.

Das »National Single Window« (NSW) ist ein zentrales behördliches Meldesystem für den deutschen Seeschiffsverkehr, das vorrangig der Erfassung und dem Austausch administrativer Daten meldepflichtiger Unternehmen und Behörden dient. Eigentlich könnten jedoch alle Akteure der maritimen Wirtschaft vom Zugang zum System und seiner Nutzung profitieren.

Ziel des durch das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) geförderten Projekts »NSW-Plus« ist es daher, das bestehende NSW-Meldesystem um weitere sicherheitsrelevante wie auch kommerzielle Daten der maritimen Transportkette zu erweitern. Auf diese Weise entstünde eine neue Dienstleistung, die der maritimen Wirtschaft erhebliche Vorteile bringt, indem sie die Planung und Steuerung von Transporten erheblich verbessert. Sie könnte als Blaupause für andere europäische Länder dienen.  

Informationen nur einmal zur Verfügung stellen

Vision von NSW-Plus ist es, dass alle für einen maritimen Transport relevanten Informationen nur einmal zur Verfügung gestellt werden müssen, unabhängig von Mitgliedstaaten, Häfen und sonstigen Beteiligten. NSW bietet hierfür die ideale Ausgangsplattform, die zu diesem Zweck mit weiteren Daten angereichert und anschließend rechtssicher in die digitale Welt der Logistik 4.0 überführt werden soll.

Arbeitsanteil des Fraunhofer FKIE war die Entwicklung eines Konzepts, wie die auf diese Weise zusammengeführten Daten anschließend ausgewertet, aufbereitet und möglichst intuitiv und anschaulich nutzbar gemacht werden. Da es sich um sensible Daten der Unternehmen und Behörden handelt, unterstützten die FKIE-Wissenschaftler zudem bei der Minimierung der Cyberrisiken der prototypischen Implementierung. Ein weiterer Fokus lag auf einer möglichst praxisnahen und nutzerorientierten Gestaltung der Lösung. Durch Entwicklung eines spezifischen Akzeptanzmodells konnten außerdem die optimalen Voraussetzungen für die Einführung des Systems geschaffen werden.

Bis heute werden im National Single Window (NSW) nur administrative Daten verteilt. Operative Daten, die die Hafen-Terminals für Planung und Betrieb benötigen, werden auf unterschiedlichen anderen Wegen zur Verfügung gestellt. Das führt zu Mehrfachmeldungen, uneinheitlichen Datenformaten und damit zu Risiken für Fehler und Inkonsistenzen.

Mit der Öffnung von NSW für alle weiteren an der maritimen Transportkette beteiligten Akteure soll sich das ändern. Diese Akteure stehen dabei in unterschiedlichen Beziehungen zueinander: Sie sind Partner bzw. Kunden (z. B. Reeder und Transporteure), aber auch Wettbewerber (z. B. Reeder untereinander). Für die künftige Akzeptanz der Lösung und das in sie gesetzte Vertrauen sind daher Sicherheit und Mehrwert des funktional erweiterten Systems von höchster Relevanz. Nur wenn beide gegeben sind, werden die Atkeure ihre Daten auch in das öffentliche System einspeisen, um es zu nutzen.

Systemkonzept

Bislang übernimmt ein NSW-Kernsystem die Entgegennahme, Aufbereitung und Bereitstellung der meldepflichtigen Daten, die diesem von externen Anwendungen wie Hafeninformationssystemen oder Web-Meldeclients zugeleitet werden. Behörden rufen die Daten dann in Form von Nachrichten ab. Dieser Ansatz wurde bei der Entwicklung des NSW-Plus-Konzepts übernommen, jedoch spezifiziert in die Unterteilung Webserver, Datenbanksystem und Programmierschnittstelle (API). Die API kann von Anbietern für die Entwicklung eigener Anwendungen zur Datenein- und -ausgabe genutzt werden. Damit hierbei die Einhaltung der Schnittstellen- und Sicherheitsstandards gewährleistet bleibt, ist für neue Anwendungen eine Zertifizierung durch den NSW-Plus-Betreiber erforderlich.

IT-Sicherheit

Bereits in der Designphase der NSW-Erweiterung hat das Fraunhofer FKIE an der Vorbereitung der IT-Sicherheit des Gesamtsystems mitgewirkt. Große Teile der Software des NSW-Plus-Prototypen sind im Rahmen des Projekts entstandene Eigenentwicklungen. Ein detailliertes Rechte- und Rollenkonzept wurde erarbeitet, das die Vergabe von Rechten durch den jeweiligen Dateneigentümer berücksichtigt. Hierbei wurde besonderes Augenmerk auf mögliche Inkonsistenzen und Probleme bei der Wahrung der Vertraulichkeit der hinterlegten Daten gerichtet.

Ein technisches Sicherheitskonzept für den NSW-Plus-Prototypen wurde erstellt. Es kann als Basis für ein kommendes Produktivsystem genutzt werden. Inhaltlich ist es an den IT-Grundschutz des BSI angelehnt, was bei der Zertifizierung für Datenzulieferer an das NSW-Plus behilflich ist und eine spätere Anbindung potenzieller Nutzer prozess- und organisationsseitig erleichtert. Weiterhin wurden die im aktuellen NSW-System bestehenden sogenannten Meldeklassen um NSW-Plus-spezifische Meldeklassen ergänzt. Hierbei wurde das bestehende Prinzip des einen Meldewegs beibehalten: Alle Informationen, egal an welchen Empfänger, werden grundsätzlich an eine Stelle gesendet.

Konzeption des Human-Machine Interface

Ausgangsseitig bietet NSW-Plus erheblich mehr Flexibilität als das bisherige System. Für eine Weiterverarbeitung können Daten über eine Datenschnittstelle für andere Systeme direkt abrufbar gemacht werden (machine to machine, M2M). Mittels eines Frontends, bspw. einer Web- oder lokal installierten Anwendung, können die Daten für Anzeige oder Auswertung aufbereitet werden.

Als Beispiel für eine solche Anwendung hat Fraunhofer FKIE ein Human-Machine Interface (HMI) für das Havariekommando entwickelt und in einem Demonstrator für die Pilotanwendung »Integration von Ladungsdaten Import/Export« umgesetzt (Details s. Reiter »Use Case«). Hierbei wurde der Prozess zur Gestaltung gebrauchstauglicher interaktiver Systeme nach ISO 9241-210 für die Konzeption eines effizienten, effektiven, intuitiven und ergonomischen Systems angewendet.

Das verpflichtende National Single Window (NSW) darf derzeit nur von Behörden genutzt werden. Unterschiedliche Akteure innerhalb der maritimen Transportkette müssen hierzu Daten melden. Diese sind jedoch Teil eines größeren Datenpools, der an anderer Stelle mit unterschiedlichen Akteuren ausgetauscht wird. Im Rahmen von NSW-Plus wurde aufgezeigt, wie unter Beibehaltung der Meldepflicht allen Beteiligten der maritimen Wirtschaft mehr Daten zur Verfügung gestellt werden können.

NSW-Plus wurde im Rahmen des Projekts in drei Prototypen für drei Piloten evaluiert:  

  1. die Integration von Ladungsdaten
  2. die Integration des Verified Gross Mass (VGM)
  3. die Integration von Vor- und Nachlaufinformationen.

Insbesondere Pilot 1 wurde im Projekt intensiv betrachtet (s. Reiter Use Case).  

Die wesentlichen Ergebnisse, die hierbei erzielt werden konnten, sind:

  1. die sofortige Verfügbarkeit von Daten
  2. ein ergonomisch gestaltetes Frontend mit einem diesem hinterlegten sensiblen Rechte- und Rollenkonzept für die nutzerspezifische Anpassung, Strukturierung und Filterung von Daten
  3. Unterstützung der Aufklärungsprozesse durch ergonomische, interaktive Aufbereitung der Daten
  4. spezifisches Akzeptanzmodell.
Umfangreichster Arbeitsanteil des Fraunhofer FKIE war die Konzeption und Umsetzung des Human-Machine Interface (HMI) nach DIN EN ISO 9241-210. Das dieser zugrundeliegende iterative Vorgehen machte einen intensiven Austausch mit den Nutzern erforderlich. Dieser wurde vor allem durch zwei dem Projekt assoziierte Partner ermöglicht: das Havariekommando und das Hansestadt Bremische Hafenamt (HBH). »Insbesondere mit dem Havariekommando hat sich so eine sehr intensive und engagierte Zusammenarbeit ergeben, durch die wir sehr viel gelernt haben«, so FKIE-Projektleiterin Anastasia Schwarze. »Umso schöner, dass sich dann im Laufe des Projekts und mit stetigem Fortschreiten des Demonstrators immer klarer zeigte, wie sehr doch gerade das Havariekommando von den erweiterten Daten in NSW-Plus profitieren würde.« Die Forschungsergebnisse können sowohl für die maritime Sicherheit als auch in anderen Domänen, in denen mit großen Datenmengen gearbeitet werden muss, verwendet werden.

Wichtige Ad-hoc-Informationen für das Havariekomamndo

© Fraunhofer FKIE
Visualisierungskonzept »Havariekommando«: Die wichtigsten Informationen finden sich in jeweils eigenen Bereichen, die alle miteinander verbunden sind. Die Anzeigen passen sich automatisch an, sobald der Nutzer mit den Daten arbeitet und interagiert.
© Havariekommando
Ihre erste praktische Bewährungsprobe hat die in enger Abstimmung mit dem Havariekommando entwickelte NSW-Plus-Demonstratorlösung im Januar 2020 bei einer Stabsrahmenübung. Wie sich in dem trainierten Havarieszenario zeigt, hätte das System die erforderliche Zeit für die Beschaffung wichtiger Informationen von einigen Stunden auf Null reduzieren können.

Das Havariekommando greift aktuell auf das bestehende NSW für die Abfrage von Gefahrgutinformationen zu. Im Fall einer Havarie werden jedoch Informationen zu allen Containern an Bord benötigt. Sie müssen derzeit  auf anderen Wegen, zumeist über die betroffene Reederei, beschafft werden. Das kostet wertvolle Zeit und genau die ist ein kritischer Faktor. Je schneller Informationen verfügbar sind, desto früher und genauer kann der Einsatz geplant und durchgeführt werden.

Mithilfe des in intensiver Abstimmung mit dem Havariekommando vorbereiteten Prototypen stehen alle Ladungsinformationen ad hoc über das NSW-Plus-System zur Verfügung. Zusätzlich unterstützt die vom Fraunhofer FKIE entwickelte Nutzeroberfläche die Visualisierung der Daten und die Interaktion mit diesen. Die Datenanzeige kann individuell und situationsspezifisch angepasst werden. Die Ladungsliste, die bisher in PDF-Form vorliegt, wird nun in Form einer interaktiven Tabelle mit Filter- und Sortierfunktionen dargestellt. Visualisierungen der Containerarten und -positionen auf dem Schiff unterstützen zusätzlich das Situationsbewusstsein. Die Prozesse vereinfachen und beschleunigen sich so deutlich.

Praktische Erprobung bei Stabsrahmenübung mit großer Reederei

Am 16. Januar 2020 konnte sich NSW-Plus erstmalig bei einer Stabsrahmenübung des Havariekommandos unter Beteiligung der Mediterranean Shipping Company (MSC), der aktuell zweitgrößten Container-Reederei der Welt, bewähren. Das Übungsszenario gab eine Rauchentwicklung auf einem Großcontainerschiff vor. Trainingsinhalt waren die spezifischen Abläufe der Krisenbewältigung sowie die Krisenkoordination und -kommunikation: Einsatzkräfte mussten zur Brandbekämpfung auf dem Großcontainerschiff alarmiert, ihr Einsatz vorbereitet, zeitgleich Ladungsdaten von der Reederei an das Havariekommando übermittelt und Vorbereitungen für einen Notliegeplatz getroffen werden.

Im Fokus der Übung standen hierbei die Schnittstellen zwischen Reederei und Havariekommando. Für den direkten Vergleich lief parallel zur Bearbeitung des Szenarios auf dem bisherigen Weg der NSW-Plus-Demonstrator mit. Eine Bewährungsprobe mit erfolgreichem Ausgang: »Die Beschaffung und Sichtung der Ladungsdaten kann im Krisenfall mehrere Stunden dauern«, erläutert FKIE-Projektleiterin Anastasia Schwarze. »Mit unserer Lösung lagen die Daten ad hoc und somit ab der ersten Lagebesprechung des Einsatzstabs vor. Schon bei der Übung hat sich dem Havariekommando damit gezeigt, dass NSW-Plus geholfen hätte, wichtige Zeit zu sparen und deutlich schneller die richtigen Maßnahmen einzuleiten.« Wunsch aller beteiligten Partner ist es daher, das System zu realisieren und in die Nutzung zu überführen.